Obdachlose im Teufelskreis der Hoffnungslosigkeit
Ein grün gestrichener Zug steht einsam auf einem Abstellgleis des Budapester Westbahnhofs. Und das seit gut 20 Jahren. In seinen acht Waggons leben an die 110 Männer – Obdach- und Arbeitslose, Geschiedene, ehemalige Heimkinder, die im Sog der Mittellosigkeit zu spüren bekamen, wie kurz der Weg auf die Straße ist.

Vor dem Eingang zum Zug in der Vagany-Strasse im 14. Budapester Stadtbezirk warten um 17.00 Uhr Männer auf den Einlass. Der Wunsch nach einer Pritsche für die Nacht lässt sie das schlechte Wetter vergessen. Doch nur wer sich ausweisen kann, ein aktuelles Gesundheitszeugnis und einen annehmbaren Alkoholspiegel hat, darf das Tor passieren.
Betreut wird der Zug vom ungarischen Malteser-Hilfsdienst. Vorsitzender Pfarrer Imre Kozma erinnert gerne an einen alten russischen Flussdampfer, der bis 1993 an der Margareten-Insel in Budapest ankerte und als Obdachlosenheim diente. „Und als das Schiff die Anker lichten musste, traf Gott sei Dank der ehemalige DDR-Militärzug ein. Das war unserer Rettung, denn die Zahl der Bedürftigen wuchs von Tag zu Tag.“ Pfarrer Kozma bezeichnet den Zug als „Symbol des Dankes der Deutschen” für die Betreuung der ehemaligen DDR-Flüchtlinge im Sommer 1989 – Als Dank an die Malteser, aber auch die vielen freiwilligen Helfer.
In den Waggons sitzen, liegen die Männer auf den Pritschen. Nehmen das Abendessen ein, das ihnen Tibor in die Kunststoffschüsseln füllte. In den großen Töpfen Spenden von Hotels, Bäckereien, nicht verwendete Essensrationen aus Schulen und Kindergärten. Auch zunehmend mehr junge Männer stehen an nach einem Schlafplatz im Zug, da sie der Platzverweis aus der Gesellschaft immer häufiger trifft. „Sie kommen oft aus der staatlichen Fürsorge, wo sie ohne Eltern aufwuchsen. Und diese Heime müssen sie mit 18 Jahren verlassen”, erklärt Balazs Kenesey. Er leitet den Zug seit 20 Jahren. Ein solches Schicksal erlitt der heute 30-jährige Misi. Er wuchs in einem solchen Heim auf. Als er gehen musste, erhielt er ein bescheidenes Startgeld vom Staat für das eigenständige Leben. „Doch da war auf einmal meine Mutter wieder da, die sich jahrelang nicht gemeldet hatte. Sie knöpfte mir das Geld ab und verschwand. Ich stand auf der Straße.” Das erzählt Misi, der jedoch eine Frau und damit den Weg zurück in ein normales Leben fand. Heute arbeitet der fröhliche große Mann im Zug und hilft beim Putzen, nachdem die Bewohner diesen am Morgen verlassen haben.
Die Männer in den Waggons lesen im dämmrigen Licht, andere spielen Karten, unterhalten sich mit dem Nachbarn oder sitzen einfach nur da. Ein Lachen ist selten zu hören. Und ist der Winter bitterkalt, die Schlange am Eingang zum Zug besonders lang, dann rücken sie zusammen.
Laszlo lebt seit drei Jahren im Zug, Der 58-jährige ist geschieden, hatte wegen Krankheit seinen Job im Gastgewerbe verloren. Wenn er am Morgen um 8.00 Uhr den Zug verlassen muss, geht er in eine Wärmestube, wo er auch seine Wäsche waschen kann. Er erhält zwar eine Invalidenrente, doch von der könne er sich keine Unterkunft leisten. Ferenc mit dem Rauschebart erklärt kurz seinen Weg in die Obdachlosigkeit. Er hatte drei Ehefrauen, die hätten ihn arm gemacht. Vis-á-Vis sitzt Jozsef auf dem Bett, neben ihm das Abendessen. An der Waggonwand eine Uhr, denn der kleine Mann mit den funkelnden Augen will immer wissen, was die Stunde geschlagen hat. Er lebt seit 1996 hier im Zug. Jozsef hat einen Sohn, der hat eine Wohnung. „Ich will den jungen Leuten nicht zur Last fallen, bleibe lieber hier im Zug”. Auch Bettnachbar Laszlo ist seit 20 Jahren mit Unterbrechungen an Bord. „Ich kam und ging. Versuchte immer wieder, mein Leben zu ordnen. Nur gelangt das nicht. Balazs, der Chef vom Zug, hat mir geholfen, Arbeit zu finden. Mich hat die Polizei auch schon mal in die Klapsmühle gebracht, als ich aus Frust auf die Budapester Kettenbrücke geklettert war.”
Die Männer fühlen sich sicher im Zug, erzählen von Obdachlosen, die unter Brücken und auf Heizungsschächten übernachten, die sich aus Angst vor Gewalt und Diebstahl weigern, in einem Asyl eine Bleibe für die Nacht zu suchen. „Hier im Zug herrsche Ordnung. Das ist auch gut so, erklärt Pal. „Wir versuchen es mit einem friedlichen Nebeneinander, was aber nicht immer gelingt.
Ein Kombi mit dem Logo der Malteser rollt neben den Zug. Balazs Kenesey bringt Säcke mit Brot und große Töpfe mit Suppe und Reis. Der 40-jährige ist tagtäglich auf Spendenjagd, um das Lager im Küchenwaggon zu füllen.
Im ausgemusterten DDR-Armee-Zug wird das Weihnachtsfest geplant. Balazs Kenesey erhält Unterstützung von freiwilligen Helfern. Da wird das Weihnachtsessen besprochen, die Kühltruhe gefüllt, der Tannenbaum gekauft. Dieser steht am Heiligenabend festlich geschmückt im letzten Waggon des Zuges, wo sich die Männer versammeln. Pfarrer Kozma hält eine Messe ab, versucht Mut zu machen, fordert auf zum Zusammenhalt der Schicksalsgemeinschaft bei ihrem Leben auf dem Abstellgleis.
Autorin: Harriett Ferenczi